[0:00] Stefan Raue: Ich bin Stefan Raue. Ich bin seit 1. September dieses Jahres Intendant von Deutschlandradio.
[0:06] Jörg Wagner: … rund 100 Tage im Amt. Womit haben Sie die meiste Zeit verbracht?
[0:24] Stefan Raue: Das ist eine gute Frage. Das habe ich gar nicht so selbst im Bewusstsein. Also, es hat sehr viel Zeit gekostet, die ganzen Pflichtaufgaben zu machen. Dazu gehört ein Verwaltungsrat, Hörfunkrat, Gespräche mit der Rundfunkkommission der Länder in Sachen Auftrag- und Strukturoptimierung, KEF-Gespräche und so weiter und so fort. Das sind so die Pflichtaufgaben. Die muss man machen in diesem Amt. Für die ersten Monate hat das einen ganz großen Teil auch eingenommen. Aber ich habe auch sehr viel Zeit verbracht und sehr gut genutzt. Kennenlernen dieses Hauses. Ich bin ja nun ein Externer gewesen, der in dieses Haus “Deutschlandradio” gekommen ist …
[0:45] Jörg Wagner: … nicht ganz. Sie waren mal beim RIAS.
[0:46] Stefan Raue: Ja, das stimmt, ist viele Jahre her, aber es stimmt. Aber dennoch musste ich Deutschlandfunk, Deutschlandfunk Kultur und Deutschlandfunk Nova kennenlernen und dazu habe ich auch sehr viel Zeit investiert.
[0:58] Jörg Wagner: Sind Sie überrascht? Weil ich nehme mal an, Sie waren schon wenigstens Deutschlandfunk-Hörer vorher.
[1:03] Stefan Raue: Ja, nein das Programm kannte ich wohl, nicht in allen Einzelheiten, aber ich kannte es wohl. Aber ich kannte natürlich nicht die Kolleginnen und Kollegen, die das betrieben haben und die das machen und realisieren. Und ich habe natürlich auch erstmal kennenlernen müssen, mit welcher Struktur man solche Programme macht. Das muss man von innen kennenlernen. Das kann man nicht von außen kennenlernen.
[1:26] Jörg Wagner: Was war für Sie die größte Überraschung? Also, von außen sich für so ein Haus zu bewerben, ist natürlich sehr attraktiv. Der Deutschlandfunk mit Deutschlandfunk Nova, Deutschlandfunk Kultur hat einen unheimlich guten Klang in der Wahrnehmung draußen im Land, sage ich jetzt mal diese Politikerfloskel, sehr attraktiv, sehr solide, sehr verlässlich. Es war ein gut aufgestelltes Haus. Und wenn Sie jetzt so reingucken, was war Ihre erste Überraschung? Positiv, vielleicht auch negativ?
[1:54] Stefan Raue: Also, positiv ist für mich die große Überraschung und mit welcher Innovationsfreude auch in allen Redaktionen gearbeitet wird. Da wird tatsächlich nicht nur am jeweiligen Inhalt gearbeitet, sondern auch wird drüber nachgedacht, wie kann man ihn möglichst optimal gestalten, wie kann man auch was Neues probieren? Also, gerade beispielsweise bei Deutschlandfunk Nova, da wird ganz, ganz viel – das ist unser Experimentierfeld und das wird auch voll genutzt. Ich war aber auch überrascht, dass über das Thema, wie nutzen wir das, was wir linear machen für unser Radio-Programm für die digitale Welt, dass das noch sehr umstritten ist, dass viele Kollegen sagen, ist das eigentlich unser Kerngeschäft? Sollten wir nicht viel mehr Radio machen? Und das Internet, das lassen wir mal anderen, da ist noch sehr viel Überzeugungsarbeit notwendig und … es ist sehr viel Offenheit in den Diskussionen. Da ist meine Position auch sehr klar, aber da müssen wir noch drüber diskutieren.
[2:43] Jörg Wagner: Ich bin relativ ja erstaunt, wie weit das Deutschlandradio da schon ist. Also, selbst bei den Sprachassistenten-Systemen gibt es eine eigenes Skill-Anwendung. Sie sind ziemlich modern dafür, dass Deutschlandradio einen sehr konservativen Klang hat.
[2:58] Stefan Raue: Ja, das hat einen Klang, aber wenn Sie in den Sender reinschauen, sehen Sie, dass da ganz viel Innovationsfreude ist und Neugier auch und viele jüngere Kolleginnen und Kollegen sind, die den Sender auch nach vorne bringen wollen. Das kann ich auch gut nutzen in allen Diskussionen und die erwarten von einem Intendanten auch, dass er das fördert und das bekommen sie auch.
[3:17] Jörg Wagner: Wie hat die Belegschaft aufgenommen, dass Sie im Vorfeld geäußert haben, wir müssen die ‚Generation RTL‘ bekommen?
[3:23] Stefan Raue: Ja, das ist teilweise nicht richtig verstanden worden. Das ist so verstanden worden, als wollte ich ein RTL-Programm hier installieren. Jeder, der mich aber kennt und weiß was ich vorher gemacht habe, weiß, dass ich eher für ein ziemlich trockenes Info-Brötchen gehalten worden bin, weniger als RTL-Fan mich geoutet habe. Nein, was ich damit meinte, war, wir haben es jetzt mit Generationen von Hörern zu tun, von Multiplikatoren zu tun, die mit einem bipolaren System aufgewachsen sind, die erlebt haben, dass es neben den öffentlich-rechtlichen auch private Anbieter gibt, die auch respektable Nachrichten beispielsweise machen wie RTL. Es gibt private Nachrichtenkanäle. Es gibt keine Alleinmacht der öffentlich-rechtlichen mehr jetzt im Feld der Information und wenn eine Generation da heranwächst und älter wird und auch in wichtige Positionen geht, muss man mit dieser Generation anders darüber reden, welche Legitimität das öffentlich-rechtliche System hat, als mit Generationen vorher, die noch mit der Erfahrung gelebt haben, dass das öffentlich-rechtliche System auch eine Antwort auf den Staatsfunk von Goebbels war.
[4:32] Jörg Wagner: Staatsfunk – ist ein Super-Stichwort, weil Sie haben in Ihrer ersten Zeit auch einen Artikel im Spiegel geschrieben. Recht ungewöhnlich für einen neuen Intendanten, in einem Printmedium sich Gedanken zu machen über die Konfrontation zur Zeit, die herrscht zwischen öffentlich-rechtlichem System und Verlegern. Dieser Artikel hat – also aus meiner Beobachtung – sehr stark zumindest Aufmerksamkeitswellen gehabt, aber ist denn wirklich was passiert, dass Verleger auf Sie zugegangen sind und gesagt haben, ja Herr Raue Sie haben recht, es ist genug gestritten worden, wir müssen jetzt mal einfach wieder eine neue Gesprächsform finden?
[5:09] Stefan Raue: Nein, so weit ist nicht. Und man muss ja auch sehen: Schuster bleib bei deinen Leisten oder kleiner Sender backt auch kleine Brötchen. Wir sind das Deutschlandradio mit seinen drei Programm und nicht der WDR, der NDR, der Bayerischer Rundfunk oder das ZDF gar. Wir sind ein kleiner Sender. Wir können solche Diskussionen und ich kann solche Diskussion nur anstoßen. Ich kann sie nicht führen im Namen des öffentlich-rechtlichen Systems. Das ist nicht mein Mandat und da würde ich mich auch heillos überfordern. Nein, mich hat bewegt, ich bin Journalist, Journalist, Journalist und dann kommt der Ausspielweg, dann kommt vielleicht das Fernsehen, der Hörfunk. Ich bin aber zunächst mal Journalist und als Journalist leidet man wie ein Hund, wenn die Branche, in der man mit soviel Herzblut arbeitet, wenn die so heillos zerstritten ist. Und das war das Motiv, dass ich gesagt habe, es gibt Interessenkonflikte, aber wir haben noch nicht die richtige Art, diese Interessenkonflikte auszutragen. Wir müssen zusammen reden. Wir müssen an einen Tisch. Da gibt es noch keine direkten Anzeichen. Ich werte aber so ein bisschen im Augenblick die Situation, dass die allzu scharfen Gefechte im Augenblick ausbleiben, auch als Indiz dafür, dass das Nachdenken auf allen Seiten auch eingesetzt hat, nicht nur wegen dieses Artikels, aber es gibt immer eine Zeit, in der sowas auch dann gewissermaßen Ausdruck einer insgesamt einer Einschätzung ist und ich glaube,im Augenblick haben alle das Gefühl, dass es der Branche insgesamt und ihrer Seriosität und ihre Ausstrahlung nicht hilft, wenn wir uns weiter so bekämpfen.
[6:34] Jörg Wagner: Jetzt ist das Umfeld so, dass natürlich auch in der ARD – das sind ja Ihre natürlichen Partner – so etwas gibt wie: wollen wir den Verlegern nicht entgegenkommen? Der Westdeutsche Rundfunk sagt, wir werden nur noch knappe Informationsangebote textlich im Internet verbreiten und mehr audiovisuelle Produkte ausspielen. Es gibt aber auch eine andere Meinung, die sagt: nein, wir wollen die Freiheit, selbst zu entscheiden, wann was in welcher Textmenge veröffentlicht wird. Wo stehen Sie da?
[7:04] Stefan Raue: Ich wehre mich gegen das Zeichen- und Zeilenzählen. Das ist eine mathematische oder statistische Methode, die hat mit publizistischem Inhalt nichts zu tun. Das ist etwas für Bürokraten. Ich bin Journalist. Und ich denke in publizistischer Wirkung. Und die publizistische Wirkung unserer Angebote muss im Zentrum das sein, wofür wir stehen, nämlich für Deutschlandradio, für Hörfunk. Zuerst einmal Hörfunk und für Fernsehanstalten: Fernsehen und für Verlage: ihre Print-Ausgaben oder ihre Printprodukte. Aber wir müssen auch sehen, dass im Netz multimediale Angebote en vogue sind. Das ist die Zukunft. Nicht das Spiegeln unserer jeweiligen linearen Produkte. Das heißt, wir sind alle eigentlich auf einem ähnlichen Weg. Sie wissen, dass einige Verlage auch Fernsehsender kaufen und integrieren und multimediale Angebote weitertreiben. Deswegen hilft uns diese ganze Diskussion “zu viel Text”, “zu presseähnlich” überhaupt nicht. Wir müssen genau schauen, wo sind denn die Interessenkonflikte und wo sind die Bereiche, in dem wir öffentlich-rechtlichen sind, die die Refinanzierung der Angebote der Verlage behindern. Und wenn wir das mal identifiziert haben, wenn die Verleger uns das mal gesagt haben, da und da entsteht uns ein finanzieller Schaden, dann kann man da auch drauf reagieren. Die Antwort kann nicht sein, liebe öffentlich-rechtlichen verschwindet aus dem Netz mit euren Informationsangeboten, dann bricht das Paradies aus. Das kann nicht das Endergebnis einer solchen Verhandlung sein. Wir müssen da zueinander kommen und auch Kompromisse eingehen. Das heißt für die öffentlich-rechtlichen auch, sich zu beschränken, in den Bereichen sich zurückzuhalten, wo die Verlage echte Chancen haben, sich auch zu refinanzieren im Netz.
[8:48] Jörg Wagner: Das Deutschlandradio mit seinen drei Programm ist in erster Linie, Sie sagten es, Radio. Wo sehen Sie tatsächlich, wenn Sie jetzt ins Jahr 2018 hineinsehen da Gestaltungsmöglichkeiten, dieses Medium weiterzuentwickeln? Denn das war ja das, was Sie auch dem Hörfunkrat sagten, Sie wollen dieses Programm behutsam, aber dennoch weiterentwickeln.
[9:08] Stefan Raue: Also, zunächst einmal ist für mich wichtig, dass wir unseren Wert als Leitmedium in Sachen Nachrichten-Produktion verstärken. Ich habe deswegen den Programmdirektor gebeten, noch stärker darüber nachzudenken und auch zu planen, wie wir mit dem Thema investigative Arbeit vorgehen. Man muss die Möglichkeit haben in so einem öffentlich-rechtlichen Sender auch Kolleginnen, Kollegen freizustellen für bestimmte Recherche-Projekte und wenn die dann gar reif sind und fertig sind und wenn man das Gefühl hat, da ist was bei rausgekommen, dann kann man überlegen, wie man das wo auch immer dann ausstrahlt. Das ist ein Teil Profilierung im journalistischen Bereich. Der Deutschlandfunk, Deutschlandfunk Kultur – das sind hervorragende Sender mit tollem Nachrichtenwert auch. Aber da können wir auch noch ein bisschen zulegen. Der zweite Punkt ist, dass wir mit unseren Programm uns noch stärker profilieren müssen voneinander, weil bei einem DABplus-Empfänger erscheint der Name Deutschlandfunk oder der Name Deutschlandfunk Kultur oder der Name Deutschlandfunk Nova und der Nutzer, der Hörer hat die Möglichkeit, einen Kanal anzuwählen. Dann muss er aber auch wissen, was bei diesem Kanal sich verbirgt. Was verbirgt sich bei Deutschlandfunk, bei Deutschlandfunk Kultur, Deutschlandfunk Nova? Das sind keine Programme, die sich gegenseitig ergänzen, wo man mal dahin schaltet, mal dahin schaltet, sondern sie müssen eine gemeinsame Seele haben, eine gemeinsame Ausstrahlung haben, ein gemeinsames Profil haben. Auch daran, müssen wir weiter arbeiten
[10:35] Jörg Wagner: Jetzt gibt es aber tatsächlich die Entwicklung, dass das Radio als eigentlicher Empfänger im Internet der Dinge verschwindet. Wie sind Sie denn darauf eingestellt, dass möglicherweise die Marke Deutschlandfunk nicht mehr mit einem Gerät verbunden wird?
[10:51] Stefan Raue: Ja, ich bin da nicht so … also ich habe eine andere Vision. Ich habe jetzt viele Jahre auch im Fernsehbereich gearbeitet und da ist der Tod des linearen Fernsehens jeden Monat besungen worden. Und was haben wir jetzt? Wir haben mehr Fernsehnutzung denn je und auch Treue zu bestimmten Kanälen und zu bestimmten Programmen. Auf der anderen Seite ist aber auch die zeitsouveräne Nutzung weiter gestiegen, sowohl bei den Streaming-Diensten, als auch in der Mediathek und so weiter. Das heißt, wir haben eine viel stärkere Mediennutzung insgesamt. Die verteilt sich anders. Und die neuen werden auch sehr, sehr stark. Das heißt, wir müssen beides machen. Mir müssen das lineare Programm sehr stärken. Das muss, wie gesagt, profiliert sein. Das muss für die Menschen auch ausgerichtet sein, die sagen, das ist mein Sender, den höre ich so lange wie möglich, solange es mir nur möglich ist und wenn mir was nicht gefällt, nehme ich mal jemand anderes, aber im Prinzip kehre ich zu dem wieder zurück. Wir müssen aber auch mit unseren Angeboten, das ist das Angebot Podcast und anderes, müssen wir aber auch Menschen, die viel flexibler sind und die mal das hören wollen, mal das hören an bestimmten Produkten und Informationen und Details und eigenen Themen interessiert sind, denen müssen wir es auch bieten. Das heißt, was Sie gesagt haben, die Sprachsteuerung. Das bedeutet aber auch, dass wir Archiv-Systeme oder Auffind-Systeme entwickeln müssen und fördern müssen, die stärker auch Audios entschlüsseln, weil wir haben ja bis jetzt nur eine Entschlüsselung über geschriebenen Text, noch nicht über gesprochenen Text, das heißt, wir müssen Systeme entwickeln, wo Menschen sagen, ich möchte etwas zum Thema Venezuela haben. Und danach recherchieren und danach Audios, also Hörfunk-Beiträge von uns finden, die mit diesem Thema zu tun haben. Wir müssen aber auch darüber hinaus sagen, das ja meine Idee auch ist, dass Deutschlandradio über seinen Rundfunk und sein Hörfunk, den es produziert und die digitalen Angebote, auch Anreger von großen Diskussionen in der Gesellschaft sein soll als Gastgeber für große Podiumsdiskussionen, Kongresse und dass wir natürlich auch Musik-Förderer sind mit unseren beiden Orchestern und mit den beiden Chören, auch das gehört zu einem public-value-Unternehmen dazu. Wir bekommen Rundfunkbeitrag, aber wir verstehen ihn nicht nur als Beitrag für eine bestimmte Sendung, die wir abliefern, sondern für einen Beitrag für das Kulturleben und das politische Leben in Deutschland.