Haben Sie herzlichen Dank, für die Einladung.
Guten Abend, liebe Dokumentarfilmschaffende in- und außerhalb der Sendesanstalten!
Wir feiern die ARD und den Dokumentarfilm. Völlig zu recht. Heute geht es um großartige Filme, um lauter spannende ARD-Produktionen. Wenn wir aber gleich im Anschluss auf den nächsten Empfang gehen, Patricia Schlesinger sagte es schon, reden Alle über: Netflix.
Um gleich zum Brauchtum zu kommen: Es gibt in Köln ein Karnevalslied, in dem ein Mann besingt, wie die von ihm angehimmelte Frau mit einem anderen Mann von dannen zieht. „Wat hät dä – also der Andere – wat isch nit han“, ruft er traurig im Refrain.
Und so stelle ich mir ‚die’ ARD manchmal vor, wie sie vor dem Spiegel steht, an Netflix denkt und frustriert ausruft: „Wat han die, wat isch nit han!“ „Nix!“, würde ich ausrufen. Gar nix. Sicher: Netflix, das sind die Neuen auf dem Schulhof, auch das macht sie attraktiv.
Aber was hat denn Netflix, was Sie nicht haben? Die ARD verfügt über Geld, unzählige Sendeplätze, eine enorme Marketingpower und – last not least – über hochkompetente Fachkräfte, genannt Redakteure, die als Geburtshelfer, Dramaturgen und Partner unsere Filme begleiten und ermöglichen.
Einen Unterschied gibt es: Netflix zeigt, was es hat und redet darüber. In der ARD wird auch viel geredet: Wir waren Papst und wir waren auch mal Weltmeister. Nun sind wir Vorrundengruppenletzter im Fußball und vierter der Handball-WM. Päpste und Weltmeister wechseln. Außer im Dokumentarfilm. Wir, also Sie, sind Oscar! Fast jedes Jahr! 2015 der Oscar für „Citizen Four“, 2018 Nominierung für „Last men from Aleppo“, dieses Jahr Nominierung für „Fathers and Sons“. Was glauben Sie eigentlich, was Netflix da jeweils für ein Fass aufgemacht hätte.
(Beifall)
Sie sind auch Sundance, Berlin, Venedig und Cannes! Dutzendfach Deutscher Filmpreis! Mit Dokumentarfilmen! Jedes Jahr! Weiß das irgendwer außerhalb dieses Raumes? Vielleicht sagen Sie es mal jemanden!
(Beifall)
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen in der ARD, Sie produzieren mit uns gemeinsam die besten Dokumentarfilme der Welt! Filme, die über den Tag hinaus wirken und anders als Nachrichten oder Talk eine Halbwertzeit über viele Jahre haben. Filme, die universelle Geschichten erzählen. Filme die künstlerisch, provokant, irritierend, innovativ und unterhaltsam sind. Filme, die weltweit bepreist und gefeiert werden.
Warum verstecken Sie die? Das ist so, als würde Adidas die drei Streifen auf den Turnschuhen übermalen, bevor diese an den Einzelhandel gehen. Wären diese drei Streifen der Kern der Marke ARD, so wäre der unformatierte lange Dokumentarfilm einer dieser Streifen.
Seit der Einführung des Privatfernsehens orientierte sich die ARD zunehmend an der Einschaltquote. Etwas zu einseitig würden manche, würde auch ich sagen, aber im Grunde war diese Orientierung ja richtig. Doch die Zeiten ändern sich: 2018 nutzte nur noch ein Drittel der 14-29jährigen das lineare Fernsehen, die Streamingnutzung stieg auf fast 60% an. Bei den 14-29jährigen. Das von der Quote gemessene Publikum ist im Schnitt älter als 60.
Wenn Sie also nun zur Plattform werden und junge Zuschauer (oder auch nur mittelalte wie mich) dorthin locken wollen, geht es weniger um die Quote, als um die Marke! Netflix weiß das. Ich glaube nicht, dass ein langsam geschnittener Schwarzweiß-Film, dessen künstlerische Qualität Sie wirklich nur im Kino erkennen können, Publikums-Renner auf der Plattform ist. Aber: Seit Monaten reden alle über „Roma“, seit Monaten prägt dieser Film die Marke Netflix.
Netflix puscht auch seine Dokus. Obwohl diese bestimmt ebenfalls weniger Zuschauer finden als „House of Cards“ mit – oder ohne – Kevin Spacey. Aber es wird darüber gesprochen. Die „brand“ Netflix wird über diese Produkte kommuniziert und nicht über den Schrott, den man auch auf dieser Plattform finden kann und der teilweise ganz sicher auch dort quantitativ besser läuft.
Das Erste und alle Dritten zusammen verfügen jede Woche über 5.040 Minuten in der ersten Primetime. Wäre es so kühn, davon 90 für den unformatierten Dokumentarfilm abzuzweigen und „nur“ noch 4.950 Minuten pro Woche für Verbrauchermagazine, Talk, Quiz, Regionales, Krimis und Reportagen zu reservieren?
(Beifall)
Mit Primetime-Sendungen wie „Heimat der Rekorde“, den „Ernährungs-Docs“ oder dem „Ich weiß alles“-Quiz holen Sie Quote, aber Ihren Markenkern pflegen Sie damit nicht.
(Beifall)
Und auf dem Schulhof reißen Sie damit auch nichts. Da sind wir uns schon einig, oder? Niemand hier im Raum glaubt hoffentlich ernsthaft, diese Sendungen definieren die „brand“, die Marke ARD oder bringen neue, womöglich jüngere Zielgruppen auf ihre Mediatheken.
Natürlich, Sendezeiten sind für den non-linearen Konsum egal. Aber so lange Sie selbst ihren Werbe-, Betrailerungs- und Marketingaufwand entlang ihrer linearen Sendezeiten ausrichten, so lange brauchen Sie die Prime-Time auch für Ihren Markenkern – u. a. für den unformatierten Dokumentarfilm.
Wenn wir uns also im kommenden Jahr wiedersehen – und Sie mal wieder unbemerkt von der Außenwelt den nächsten Oscar abgeräumt haben – dann wünsche ich Ihnen, dass Sie den wöchentlichen PrimeTime-Sendeplatz – oder das non-lineare Equivalent dazu – für den langen Dokumentarfilm bekanntgeben. Und dass Sie nicht mehr vor dem Spiegel stehen, sondern Ihr Fenster öffnen und in die Welt hinausrufen:
„Wir sind die ARD!
Wir machen die besten Dokumentarfilme der Welt!
Denn: Das können nur wir!“
Vielen Dank!
(Beifall)