Aus „Kommentar“ wird „Meinung“ … und sonst?

Caren Miosga während der Premiere von „Meinung“ in den tagesthemen am 01.09.2020 | Screenshot: Das Erste/ARD

Wer:
* Marcus Bornheim, Erster Chefredakteur ARD-aktuell
* Daniel Bouhs, Freier Medienjournalist
* Jörg Wagner, Freier Medienjournalist
Was: Schaltgespräch über Veränderungen bei den „Tagesthemen“ und ARD aktuell
Wann: 05.09.2020/ 18:09 Uhr, radioeins-Medienmagazin, rbb und stark gekürzt am 06.09.2020, 10:44/17:44/22:44 Uhr im rbb Inforadio

Vgl.:
* Blick in die „Hexenküche“ der tagesschau 2020

(wörtliches Transkript, Hörverständnisfehler vorbehalten)

[00:00:00]
Caren Miosga: „Heute ist der Tag der Neuerungen bei uns. Das, was wir bislang als Kommentar ausgewiesen haben, nennen wir jetzt Meinung. Ganz einfach damit noch deutlicher wird, dass dies nicht die Ansicht der gesamten Tagesthemen-Redaktion ist, sondern die persönliche Meinung eines einzelnen Kollegen.“

Jörg Wagner: Das war Caren Miosga am Dienstag (01.09.2020) in den “Tagesthemen”. Warum kann ein Kommentar nicht Kommentar heißen? Darüber sprechen wir gleich mit dem Mann, der das zu verantworten hat …

(Musik)

[00:00:28]
Jörg Wagner: Dann reden wir also über die Meinung in den „Tagesthemen“ und holen uns den Verantwortlichen dazu: Marcus Bornheim, Erster Chefredakteur von ARD-aktuell. Hallo nach Hamburg!

[00:00:38]
Marcus Bornheim: Hallo nach Berlin!

[00:00:40]
Jörg Wagner: Ja, Herr Bornheim, warum diese Umbenennung? Warum „Meinung“, statt wie in den vergangenen Jahrzehnten „Kommentar“? Sind die Menschen medien-inkompetenter geworden?

[00:00:50]
Marcus Bornheim: Woah, das weiß ich gar nicht. Also, wir haben auf jeden Fall festgestellt und haben sehr, sehr viele Zuschriften in letzter Zeit bekommen – E-Mails, Rückmeldungen –, dass Kommentare, so wie wir sie bis jetzt im Programm hatten, als nicht ausgewogen empfunden worden sind. Dass man uns immer wieder vorgeworfen hat: Mensch, ihr müsst doch die eine oder die andere Seite auch noch beleuchten. Und dann hat man immer darauf verwiesen: Ja, ihr müsst doch den Rundfunkstaatsvertrag erfüllen et cetera. Und offenbar – das war dann sozusagen unsere Conclusio daraus – wird dieses journalistische Genre, der Kommentar, bei uns offenbar nicht mehr verstanden. Und ich kann ja jetzt keiner Zuschauerin und keinem Zuschauer abverlangen, dass er oder sie ein Journalistikstudium oder ein Volontariat vorher macht, bevor er oder sie unsere Sendung anschaut. Also haben wir gesagt, wir wollen ganz klar festmachen, das ist die Meinung der Kollegin X, des Kollegen Y, eine Einzelmeinung und nicht die Meinung der gesamten „Tagesthemen“-Redaktion oder der gesamten ARD oder einer Landesrundfunkanstalt. Um das klar zu unterstreichen.

[00:01:56]
Daniel Bouhs: Sie haben ja selbst gesagt, da gab es auch Hinweise. Jan Böhmermann hat getwittert:

[00:02:01]

[00:02:15]
Daniel Bouhs: Also hatten Sie Angst und haben deswegen reagiert?

[00:02:18]
Marcus Bornheim: Na ja, also Herr Böhmermann ist für mich jetzt nicht das Maß aller Dinge. Ich glaube einfach, dass es der Verständlichkeit dient. Und alles, was sozusagen der Verständlichkeit dient und wenn es, wie gesagt, nicht mehr verstanden wird draußen bei unserem Publikum, dann müssen wir es ändern. Das ist, glaube ich, unsere Pflicht.

[00:02:36]
Jörg Wagner: Sie hatten ja schon im Vorfeld dazu in der Anmoderation deutlich gemacht: Der Kommentar heute von, die Meinung von – also Sie haben das schon in die Moderation mit eingebaut. Jetzt labeln Sie es dick und fett „Meinung“. Aber was sind denn das für Leute, die das nicht verstehen? Haben Sie das analysieren können?

[00:02:51]
Marcus Bornheim: Na ja, wir haben natürlich keine wissenschaftliche Analyse dazu gemacht, wer das nicht versteht oder vielleicht jetzt besser verstehen könnte. Es gibt uns jedenfalls die Möglichkeit, mit dieser Bezeichnung „Meinung“ auch noch mal klar zu sagen: Hier gibt es einen kompetenten Kollegen, eine kompetente Kollegin, die aufgrund ihrer Expertise sich zu einem bestimmten Thema äußern kann. Gestern Abend beispielsweise war es die Leiterin der Wissenschaftsredaktion des Bayerischen Rundfunks. Das gibt uns die Möglichkeit, zu sagen: Hier kommt Jeanne Rubner, war es gestern, vom Bayerischen Rundfunk, die hat eine spezielle Expertise und das ist ihre spezielle Meinung dazu.

[00:03:30]
Daniel Bouhs: Am Kommentar oder jetzt eben Meinung gab es ja schon länger teils auch sehr deutliche Kritik. „Da kommen die alten Herren der ARD, Migranten spielen dabei eigentlich keine Rolle und es geht schön linksgrünversifft zu, man will uns erziehen“ – das mal überspitzt zusammengefasst. Arbeiten Sie dann auch am Inhalt, also an der Auswahl der Kommentatorinnen und Kommentatoren und nicht nur am Etikett?

[00:03:54]
Marcus Bornheim: Ja, das ist natürlich das weitere Ziel, an dem wir arbeiten wollen und das wollen wir auch weiter vorantreiben. Also, wir haben nicht so sehr das Problem in unserer Auswertung, dass wir ein Defizit haben Mann/Frau. Da sind wir relativ gut aufgestellt, dass es quasi 50:50 ist. Migranten oder jemand mit Migrationshintergrund ist ein ganz großes Defizit bei uns auf der Kommentarliste. Und genauso ein ganz großes Problem ist, Kommentatoren zu finden oder Kommentierende zu finden, die unter 40 sind. Also jetzt beispielsweise eine Familie zu finden oder jemanden, der für eine Familie spricht mit kleinen Kindern in der Corona-Phase. Also jemanden unter 40 haben wir quasi gar nicht auf der Kommentatorenliste. Das ist ein ganz großes Problem. Da wollen wir ran. Und da sind jetzt alle Landesrundfunkanstalten aufgerufen, an ihren jeweiligen Listen der Kommentierenden zu arbeiten und die in naher Zukunft uns wieder vorzulegen.

[00:04:50]
Jörg Wagner: Spielt dabei auch eine Rolle, dass Sie darüber nachdenken, vielleicht grundsätzlich auf den Kommentar zu verzichten? Also, mir ist das passiert: Unter dem Innovationsgespräch aus dem rbb, unter der Videoveröffentlichung bei YouTube gab es einen Kommentar und da sagte jemand „Also, ihr seid selber dran schuld, wenn euch die Leute nicht mehr glauben, weil Kommentare gehören einfach nicht in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Lasst diese Meinung. Einfach nur Fakten, Fakten, Fakten“ – also ist da auch drüber diskutiert worden bei Ihnen, gänzlich auf den Kommentar zu verzichten vielleicht?

[00:05:21]
Marcus Bornheim: Nicht ernsthaft, weil zu den „Tagesthemen“ gehört früher der Kommentar, gehört jetzt die Meinung. Es ist ja auch nach wie vor ein journalistisches Genre. Und ich finde es schon ziemlich wichtig, wenn wir uns darauf konzentrieren, dass wir wirklich Leute haben mit einer speziellen Fachexpertise, dann finde ich das als Zuschauer schon sehr wichtig, dass mir die Expertin, der Experte, der sich ja sehr, sehr lange mit einem Thema befasst, schon noch einmal sagt: Aus meiner Sicht heraus müsste es so oder so sein. Ich finde, das ist immer sehr anregend, auch zum Nachdenken – unabhängig davon, ob ich das teile oder nicht. Es gibt mir trotzdem immer noch mal einen Anschub, über bestimmte Themen nachzudenken.

[00:06:03]
Daniel Bouhs: Wo wir Sie schon mal in der Leitung haben sozusagen, reden wir vielleicht noch kurz über zwei andere Dinge. Das erste Stichwort: „Tagesthemen Mittendrin“ – Ihre Rubrik für Berichte aus der Republik. Das läuft jetzt nicht nur freitags, sondern inzwischen auch jeden Tag. Dafür wurden die „Tagesthemen“ nun auch unter der Woche ein paar Minuten verlängert. Wie kommt das an? Was verrät Ihnen die berühmte Quote: Ist das ein Ein- oder eher ein Abschalter?

[00:06:28]
Marcus Bornheim: Das ist ein Einschalter. Also, wir haben bis jetzt verschiedenste Längen auch ausprobiert. In der Regel schalten die Leute, so 100.000 bis 300.000, manchmal bis zu 400.000 zu, exakt in diesen drei bis fünf Minuten, wo wir diese verstärkte regionale Berichterstattung im Programm haben. Die Erfahrungen sind sehr, sehr gut. Wir arbeiten da noch ein bisschen dran. Es muss auch die regionale Berichterstattung ja nicht ausschließlich in einem klassischen Beitrag erfolgen. Wir denken auch darüber nach, dass wir regionale Berichterstattung zum Beispiel auch in längeren Gesprächen mit Bürgermeistern, mit in der Region verantwortlichen Personen führen. Also, wir versuchen da noch ein bisschen, so auch am Format zu drehen. Aber bis jetzt ist alles positiv, muss ich sagen, in der ersten Woche.

[00:07:15]
Jörg Wagner: Zweites Stichwort noch schnell: Live-Videos. Sie hatten ja im Juli schon hier an dieser Stelle, als es um Ihre „Hexenküche“ ging, angedeutet – also, Ihr Forschungslabor –, dass Sie da ausbauen und zwar Live-Streams, auch jenseits Ihrer Sendungen in sozialen Netzwerken anzubieten. Nun gab es am vergangenen Wochenende die große Demo in Berlin oder mehrere angemeldete Demos. Neben deutschen Ablegern russischer Medien war auch ein Reporter von „Bild“, den ich da gesehen habe, ziemlich lang auf Sendestrecke. Von der „Tagesschau“ habe ich auf Facebook etwa fünf Minuten sehen können. Eine Kollegin war da kurz auf der Friedrichstraße im Selfie-Modus unterwegs. Ist das Ihre Offensive, mal provokant gefragt, fünf Minuten gegen durchgehend live?

[00:07:54]
Marcus Bornheim: (Lacht) Nein, das ist sie natürlich noch nicht. Wie das so ist in der ARD: Es dauert alles ein bisschen länger bei uns. Wir haben in den letzten Jahren leider zu wenig in technische Kapazitäten investiert. Das müssen wir jetzt alles aufholen. Da sind wir dabei. Wir haben allerdings – das war jetzt nicht natürlich bei der Corona-Demo, aber wir haben zum Beispiel die Pressekonferenz von Angela Merkel nach dem Treffen mit den Ministerpräsidenten live gestreamt. Da hat uns dann Frau Merkel vier Stunden mehr oder weniger im Regen stehen gelassen und wir mussten diese vier Stunden live überbrücken. Da haben wir es schon mal so ein bisschen geübt, auch im Social-Media-Bereich, dann auf tagesschau.de gestreamt und dann eben auch bei Tagesschau24 das gleiche Signal genommen. Also, wir robben uns da so ran. Wir werden auch im September einige technische Probleme, die wir entdeckt haben, versuchen zu lösen. Und dann hoffe ich, dass es spätestens Ende des Jahres, im Prinzip im Herbst, dass wir dann den Hebel umlegen können und dann noch stärker live streamen können.

[00:08:59]
Daniel Bouhs: Dann hören wir uns hoffentlich wieder. Vielen Dank auch für Ihre offenen Worte, Marcus Bornheim!

[00:09:05]
Marcus Bornheim: Ja, gerne.

[00:09:06]
Jörg Wagner: Ja, vielen Dank und tschüss!








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