[00:00:00] „Wir alle sagen, wer herüberkommt, hat eine Entscheidung für Deutschland gefällt. Ich weiß, dass die Herren beim Staatlichen Rundfunkkomitee, die dieser Sendung zuhören, jetzt schon das Stichwort an den Rand schreiben: Da können wir wieder einen Kommentar machen, wie der RIAS abwirbt. Nun, dann sage ich Ihnen nur eins: Das ist Abwerbung für Deutschland und Abwerbung für Deutschland ist die Pflicht jedes anständigen Menschen in diesem Lande. Abwerbung für Deutschland, für unsere geliebte Heimat.“
[00:00:29]
Jörg Wagner: Hanns-Peter Herz, Sie haben sich auf dieser Aufnahme wieder erkannt. Können Sie ungefähr noch einschätzen, wann das war und zu welchem Anlass Sie diesen Kommentar gemacht haben?
[00:00:41]
Hanns-Peter Herz: Also der Kommentar muss gemacht worden sein zu einem Prozess, der in der DDR stattgefunden hat, in dem sechs oder sieben Beschuldigte verurteilt worden sind wegen Abwerbung. Und da gab es eine Hörerfrage dazu und darauf habe ich diesen Kommentar verfasst. Und wenn das richtig … wenn ich das richtig sehe, muss das 1962/63 gewesen sein.
[00:01:10]
Jörg Wagner: Nun diente dieser Kommentar möglicherweise für das Staatliche Rundfunkkomitee in der Nalepastraße als Beleg, wie Sie es gesagt haben, dafür wie der RIAS anwirbt. Haben Sie das in Kauf genommen, dass man sozusagen Sie wieder gebraucht, um Propaganda gegen den RIAS zu machen?
[00:01:28]
Hanns-Peter Herz: Dazu war man in den letzten Jahren ohnehin gekommen, denn alles konnte gegen einen verwendet werden und sie haben alles gegen einen verwendet. Aber damit haben sie dafür gesorgt, dass es praktisch über ihre Sender auch ausgestrahlt wurde.
[00:01:43]
Jörg Wagner: Wie muss man sich das vorstellen? Es gibt diesen Begriff des „Kalten Krieges“. Haben Sie sich auch als „Kalter Krieger“ gefühlt?
[00:01:50]
Hanns-Peter Herz: Ja, ich war sogar stolz darauf, dass ich so genannt worden bin. Denn damit hat man ja bestätigt, dass das, was gesagt worden ist, die Stimme war ja die einzige Waffe, die wir hatten, dass das ernst genommen wurde und dass es also … dass man den Versuch gemacht hat, es ständig zu diffamieren. Und unsere Erfahrung war als Macher dieser Sendung, dass die Menschen verstanden haben, was wir meinten, dass wir sie nicht zu Aktivitäten aufrufen wollten, die ihnen das Leben gekostet … hätte kosten können oder die sie ins Gefängnis gebracht hätten, sondern dass wir nur bestätigt haben, dass wir uns als die Vertreter eines größeren Gesamtdeutschlands gespürt haben und dass wir deshalb auch manches deutlicher gemacht haben, als es vielleicht andere getan haben.
[00:02:47]
Jörg Wagner: Was war denn eigentlich der Anlass für Sie, zum RIAS zu stoßen?
[00:02:52]
Hanns-Peter Herz: Der Anlass war, dass ich als junger Journalist anfing und mein Vater Chefredakteur des RIAS war und er mir die Chance gegeben hat, ein paar Probesendungen zu machen. Meine erste Probesendung war „Der Rundfunk besucht eine Tageszeitung“. Da ging es um den Tagesspiegel, der damals gerade neu auf dem Markt war. Und dann habe ich mehrere andere Reportagen gemacht und war schließlich beim Jugendfunk und wurde dort als Redakteur angestellt und habe dann eine politische Jugendfunkreihe aufgebaut, die sich unter anderem damit befasste, den Menschen in der DDR etwas zu erklären, was sie vielleicht so nicht verstehen konnten. Und zu den Erklärungen gehörte etwa: In der Pionierrepublik wurden Modeschauen veranstaltet und diese Modeschauen wurden unter dem Motto „Blau“ veranstaltet wie das Halstuch der Pioniere.
[00:03:50]
Und ich habe versucht, den jungen Leuten, den Pionieren und den FDJlern auseinanderzusetzen, wie man Farben kombinieren kann, dass man mit Blau nicht viel kombinieren kann, dass man aber mit Grün, Rot und Gelb eine Menge kombinieren kann. Und da habe ich provoziert eine Reihe von Artikeln in der Jungen Welt, die sich damit auseinandergesetzt haben. Dann gab es mal eine Einrichtung, die sich „Dienst für Deutschland“ nannte. Es war ein Arbeitsdienst, den die da eingerichtet haben drüben. Und wir haben uns damit auseinandergesetzt. Jeden Tag in einer Jugendfunk-Sendung morgens um 06:05 Uhr und haben den jungen Leuten erklärt, wozu sie missbraucht werden sollten, nämlich zum Schanzen von „Sicherungsanlagen“, wie die DDR es bezeichnet hat. Und der „Dienst für Deutschland“ wurde dann sang- und klanglos aufgelöst.
[00:04:51]
Jörg Wagner: Waren das Ihre eigenen persönlichen Überzeugungen? Oder gab es so etwas beim RIAS, dass es Leitsätze gab? Wie beim Axel-Springer-Verlag oder dass man sich auch austauschte unter den Kollegen, was können wir heute für die Zone, so hieß es ja damals, für Sendungen machen?
[00:05:10]
Hanns-Peter Herz: Also dass wir uns unter den Kollegen ausgetauscht haben, war selbstverständlich. Aber Leidsätze gab es nicht. Und unsere amerikanischen Freunde, die als sogenannte Kontrolloffiziere teilweise arbeiteten, die haben uns sehr große Freiheiten gestattet und haben nur mal eingegriffen, wenn wir uns vergaloppiert haben, wenn wir vielleicht Amerika zu rosig dargestellt haben oder auch deutsche Verhältnisse falsch skizziert haben nach ihrer Meinung. Und da ist manches nicht gesendet worden, was auch nur Schaden angerichtet hätte, wenn es gesendet worden wäre. Aber das ist alles eine Frucht einer Zusammenarbeit gewesen. Ich habe nie wieder in meinem Leben eine deutsch-amerikanische Institution kennengelernt, die so echt zusammengearbeitet hat zwischen Amerikanern und Deutschen wie den RIAS. Und dafür bin ich den Vereinigten Staaten auch dankbar, wenn ich sie auch jetzt vielfach kritisiere.
[00:06:15]
Jörg Wagner: Der RIAS war ja eine Einrichtung der USIA, der Informationsbehörde der amerikanischen Regierung und man könnte sich vorstellen, dass unabhängiger Journalismus eigentlich nicht so richtig möglich ist. Sie sagten zwar gerade, der Einfluss war, wenn, dann nur sehr gering, aber in der DDR-Propaganda hieß es immer, der RIAS sei eine CIA-Agenten-Zentrale. Haben Sie davon was gespürt?
[00:06:37]
Hanns-Peter Herz: Davon habe ich nie etwas gespürt und es ist auch hirnverbrannter Unsinn gewesen. Die Amerikaner haben ihre Pressefreiheit, die sie im Lande praktiziert haben, auch hier praktiziert. Und die Deutsch-Amerikaner, die uns beaufsichtigt haben, will ich mal sagen, die haben wirklich Verständnis gehabt für das, was deutsche Belange waren und haben uns diese deutschen Belange beschreiben und vortragen lassen. Und wenn ich daran denke, dass ich animiert wurde vom Chefredakteur und von unserem amerikanischen Direktor während der Passierscheinetage 1963, einen Ultrakurzwellen-Sender abgetrennt vom allgemeinen RIAS-Programm zu betreiben und den Leuten zu sagen, dass sie an dieser Aktion der Begegnung im Osten des Landes und Berlins teilnehmen sollten, obwohl wir ja vorher sie gewarnt haben, sich in den Osten zu begeben und in Gefahr zu begeben. Wir haben die Zusagen der DDR für bare Münze genommen und als bare Münze dargestellt und wir sind damit gut gefahren. Es war ein erster Schritt der Annäherung auf dem Wege zur Wiederherstellung einer Einheit Deutschlands.
[00:08:05]
Jörg Wagner: Wie haben Sie denn diese Haltung gefunden? Das ist ja dann doch so ein Umkippen des Schalters von, sagen wir mal, offener Konfrontation hinzu … ja, der Politik, der kleinen Schritte, der Besänftigung, der, wenn man so will, der tatsächlich Annäherung, wie sie Egon Bahr, der ja mal Chefredakteur im RIAS war, dann später mit Willy Brandt „Wandel durch Annäherung“ nannte. Das geht doch, wenn man tagtäglich Radio macht, sicherlich nicht mit einem Ruck?
[00:08:35]
Hanns-Peter Herz: Erstens bin ich seit langem befreundet gewesen mit Willy Brandt und ich bin heute noch befreundet mit Egon Bahr und habe auch mitgewirkt an der Ausgestaltung der kleinen Schritte, die in Deutschland gegangen worden sind. Und ich fand, dass das eine Möglichkeit war, die Konfrontation im Lande zu beenden und langsam in eine Situation zu kommen, dass sich im Bereich der DDR Widerstand entwickelt hat. Geistiger Widerstand, nicht sinnloser Widerstand auf den Straßen, aber geistiger Widerstand, der dazu führen konnte, ein Element zum Wiederaufbau eines vereinigten Deutschland zu sein. Aber ich gebe ehrlich zu, dass ich nicht daran geglaubt habe, dass das zu meiner Lebenszeit zustande kommen würde.
[00:09:29]
Jörg Wagner: Vielleicht können Sie das nochmal ganz kurz beschreiben, wie der tägliche Radioalltag für Sie aussah. Was haben Sie von den Osten-Medien gehört und wie haben Sie letzten Endes darauf reagiert?
[00:09:40]
Hanns-Peter Herz: Also wir haben zum Teil sehr komisch darauf reagiert. Ich besonders. Ich hatte eine … an mir entdeckt, eine Fähigkeit, Live-Sendungen jeder Art zu machen und habe dann im Frühprogramm, das ich mit konstruieren durfte für den RIAS, erfunden Sendungen, die sich mit dem Osten auf interessante rundfunktechnische Weise auseinandersetzten. Wir haben uns in das Programm von Radio DDR eingeblendet und ich habe das kommentiert live, was die gerade gesendet haben. Und das hat dazu geführt, dass sie manche Kommentare einfach nicht mehr gebracht haben und dass die Kommentatoren auch nicht mehr live auf den Sender durften im Osten, sondern dass sie ihre Kommentare vorher irgendwem zur Zensur vorlegen mussten, während wir immer mehr in Live-Sendungen übergegangen sind und die Live-Sendung auch dazu beigetragen haben, die Menschen im Osten sozusagen an unserem Leben etwas mehr teilnehmen zu lassen, als das mit Konserven-Sendungen der Fall war.
[00:10:52]
Jörg Wagner: Hatten Sie da eine politische Mission, so etwas wie Destabilisierung der DDR oder Aufweichung der DDR oder einfach nur den Spiegel vorhalten? Was war Ihr innerer Antrieb? Mit welchem Ziel haben Sie Radio gemacht?
[00:11:06]
Hanns-Peter Herz: Mit dem Ziel, denen ständig Ihren … den Spiegel vorzuhalten. Und wo immer es die Möglichkeit gab, den Menschen klarzumachen, dass dies ein System war, das dem Nationalsozialismus in vielem ähnlich war, wenn es auch gewisse gewaltige Unterschiede gab. Aber ein System, das nicht auf deutschem Boden entstanden war, sondern in der Sowjetunion und dass es von deutschen Kommunisten, die sich als sowjetische Handlanger betätigt haben, hier durchgesetzt wurde.
[00:11:40]
Jörg Wagner: War das Konsens beim RIAS oder gab es da auch unterschiedliche politische Motivationen? Eher, sagen wir mal, auch die gesagt haben: Wir sind einfach nur Journalisten und wollen nur informieren?
[00:11:52]
Hanns-Peter Herz: Also alle, die ich kenne, die beim RIAS gearbeitet haben, auch zu meiner Zeit, hatten eine gewisse Mission und haben sich als Missionare im politischen Sinne auch gefühlt, indem sie das, was sie geglaubt haben, öffentlich vortrugen und die Kritik an den Systemen im Osten, aber auch an manchem im Westen äußerten, um im Sinne einer Vorbereitung der Wiedervereinigung im Geistigen zu arbeiten.
[00:12:25]
Jörg Wagner: Wenn Sie nun zurückblicken, spüren Sie da Ihren eigenen Anteil, wenn man sieht, dass die Vereinigung ja nun doch zu Ihren Lebzeiten gekommen ist?
[00:12:32]
Hanns-Peter Herz: Also ich möchte mich nicht überhöhen, sozusagen. Aber ich bin doch in gewissem Sinne ganz stolz, dass ich es machen durfte und dass das doch eine gewisse Wirkung, Mitwirkung hatte und dass daraus dann auch für meine spätere Tätigkeit als Chef der Senatskanzlei in Berlin und damit Verbindungsmann zu den Alliierten sehr viel Früchte getragen hat diese Haltung, dann muss ich doch sagen, irgendwo ist man stolz auf das, was man geleistet hat.
[00:13:11]
Jörg Wagner: Der RIAS hatte nicht nur eine politische Mission oder die Journalisten im RIAS, sondern es gab natürlich auch etwas, was heute als Standard verstanden wird in der Berichterstattung, in der Kultur, in der Unterhaltung. Was war für Sie, wenn Sie zurückblicken, die wirkliche Leistung des RIAS?
[00:13:32]
Hanns-Peter Herz: Die wirkliche Leistung des RIAS war die Vielfalt des Programms. In der Vielfalt lag die Stärke des Senders, angefangen bei den „Insulanern“ bis hin zu den Kommentaren, die in der Politik gelaufen sind und den Musiksendungen, die also mit moderner Musik bekannt gemacht haben. In einer Zeit, in der im Osten der finsterste … die finsterste Reaktion, kommunistische Reaktion herrschte und die auch mit Dichtung bekannt gemacht haben, die aus der Reihe fiel, sodass also ein Gesamtprogramm des RIAS für mich doch ein deutsches Radioprogramm par excellence war.
[00:14:18]
Jörg Wagner: Der RIAS sendet nicht mehr. Es war damals irgendwie die Logik, der Auftrag des RIAS hätte sich erfüllt. Haben Sie diese Logik nachvollziehen können?
[00:14:28]
Hanns-Peter Herz: Nein, nie nachvollziehen können. Ich hätte dem RIAS noch weitere Jahre gegönnt. Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre der Übergang anders gelaufen. Aber ich glaube, dass die Richtung Rundfunkkräfte aus Ost und West zusammenzufassen und im Deutschlandfunk und Deutschlandradio zu bündeln, richtig war. Und dass der RIAS eine gute Erinnerung an eine Zeit, die nicht gerade gut war, sein sollte.
[00:14:59]
Jörg Wagner: Haben Sie sich mit ehemaligen Kontrahenten auf der Ostseite inzwischen ausgetauscht und auch verstanden, warum Journalisten aus dem Osten so gesendet haben, wie sie gesendet haben?
[00:15:08]
Hanns-Peter Herz: Ich hatte mit die Aufgabe nach dem Ende des RIAS, viele Ostberliner Rundfunkjournalisten zu integrieren. Und ich war als Vorsitzender des Journalistenverbandes in Berlin derjenige, der die Einheit der Journalisten in Berlin wieder mit zustande bringen durfte. Und das ist ganz logisch, dass man sich damit Leuten ausgetauscht hat, mit denen man früher sich gegenüber saß. Und ich habe mal erlebt bei einem Mann, der im Presseamt der DDR gearbeitet hat und manchen bösen Artikel über mich geschrieben hatte, ein Gespräch führen zu müssen zur Vorbereitung einer gemeinsamen Pressekonferenz damals zwischen Ost- und Westberlin. Und der sagte auf gut Sächsisch: Nu sehnse, so sitzen wir hier zusammen und wir verstehen uns doch.
[00:16:04]
Jörg Wagner: Das hätten Sie sich wahrscheinlich auch nie träumen lassen, dass das mal so kommen wird. Ist das eher jetzt so etwas wie man es auch aus dem Militär kennt, dass man sich respektiert, obwohl man Gegner war?
[00:16:13]
Hanns-Peter Herz: Das kann sein. Aber es hat etwas damit zu tun, dass es viele Journalisten im Osten gegeben hat, die sich versucht haben, um eine Parteilichkeit im Sinne der SED herum zu drücken, die Aussagen gemacht haben zum Leben, soweit sie es tun konnten. Und deren innerer Widerstand gegen das kommunistische Regime sollte ja eigentlich gewürdigt werden. Dabei habe ich eine Cousine von mir entdeckt, die beim Rundfunk in der DDR war und die mir über ihre Sendungen berichtet hat. Und da habe ich natürlich gemerkt, dass sie vieles gemacht hat, was genau auf der Grundlinie lag, die wir im RIAS vertreten haben, nämlich nicht Deutschland mehr auseinanderzureißen, sondern wieder zusammenzubringen.
(Interviewstopp)
[00:17:07]
Jörg Wagner: Hanns-Peter Herz, wann haben Sie denn überhaupt in Ihrem Leben, wenn Sie zurückdenken, das erste Mal Kontakt überhaupt mit dem Medium Radio gehabt?
[00:17:14]
Hanns-Peter Herz: Also mit dem Sender Königs Wusterhausen, das war schon … da war ich vier Jahre alt, da hatte mein Vater ein Nora-Radiogerät besorgt, gekauft und das wurde bei uns zu Hause aufgestellt. Und wir hörten dann den Sender Königs Wusterhausen. Und da ich noch nicht richtig das in die deutsche Form bringen konnte, hieß er bei mir der „Sender König muss nach hausen“. Und ich bin dann an einen Schrank gegangen, habe einen Stecker da reingesteckt in ein Schlüsselloch und hab gesagt: Jetzt ist hier der Rundfunk Berlin und der Rundfunk Berlin sendet. Also ich war am Anfang schon sehr rundfunkorientiert und rundfunkbegeistert. Und dann haben wir im Kriege, meine Eltern und ich, ständig die BBC gehört. Und in der BBC habe ich gelernt, in den Sendungen der BBC habe ich gelernt, wie man und was man im Rundfunk machen kann.
[00:18:20]
Jörg Wagner: Das war doch aber sehr lebensgefährlich geradezu.
[00:18:24]
Hanns-Peter Herz: Na, da wir sowieso Verfolgte des Nazi-Regimes waren, spielte das keine große Rolle mehr. Mein Vater war Jude und ich bin Halbjude und wir haben eine ganze Menge durchgemacht. Aber wir haben auch viel Unterstützung gefunden von Leuten selbst in SS-Uniformen. Und die haben dazu beigetragen, dass wir nach dem Kriege in Deutschland geblieben sind.
[00:18:49]
Jörg Wagner: Wann reifte denn in Ihnen der Wunsch, Journalist zu werden? War das die Auseinandersetzung mit den zwei verschiedenen Rundfunksystemen? Einerseits BBC, andererseits der Deutsche Reichsrundfunk?
[00:19:03]
Hanns-Peter Herz: Es war die Möglichkeit, die sich entwickelte, als in Berlin der Drahtfunk im amerikanischen Sektor seine Sendungen aufnahmen und dann in RIAS umgestellt wurde durch ein Mittelwellensender, der vom deutschen Militär übriggeblieben war. Und da gab es ja dann den Berliner Rundfunk. Da haben wir viele Sendungen, haben wir abgehört im Berliner Rundfunk, weil es keine andere Zeitansage gab. Und mein späterer Schwiegervater hatte die Zeit beim Rundfunk gemacht, und zwar erst beim Berliner Rundfunk die Zeitanlage betreut und dann beim RIAS die Zeitanlage betreut. Und diese Zeitanlagen haben wir natürlich … Zeitansagen haben wir abgehört. Und dann, als der RIAS auf ein Mittelwellensender umgestiegen ist, kam bei uns in der – damals wohnten wir in der Hanne-Nüte-Straße in Britz – kam der Rundfunk aus dem Ausguss, denn das war ja hier … der Sender war in Britz, der war nicht richtig abgeschirmt, weil es gar keine Möglichkeiten gab, ihn abzuschirmen. Und da hörten wir die Kommentare. Auch meine Kommentare kamen aus dem Ausguss und die meines Vaters. Da haben wir manchmal heißes Wasser drauf laufen lassen, weil uns die Kommentare zu stur vorkamen.
[00:20:32]
Jörg Wagner: Sie sagten, Ihr Vater war Chefredakteur beim RIAS. Hat er Sie sozusagen für dieses Medium RIAS begeistern müssen? Oder war das ein natürlicher Vorgang, dass Sie einfach dahin drängten?
[00:20:44]
Hanns-Peter Herz: Seine Art, mit mir über Rundfunk und über Journalismus zu reden, hat wesentlich dazu beigetragen, dass ich sagte: den Weg und keinen anderen. Ich hab‘ dann zwar den Umweg gewählt, Jura zu studieren, aber nur um ein Fundament zu haben, auf das man sich stützen konnte, wenn man in schwierige Situationen gerät.
[00:21:08]
Jörg Wagner: Wann war denn der erste Tag beim RIAS?
[00:21:12]
Hanns-Peter Herz: Der Drahtfunk im amerikanischen Sektor hatte im Februar 1946 angefangen und ich war Ende Februar schon unter den ersten, die eine Sendung machten, nämlich „Der Rundfunk besucht die Tageszeitung“. Ich konnte noch alles machen, was ich für richtig hielt und was die Abteilungsleitung, die war für Jugend-, Frauen- und Kinderfunk zuständig, was die Frau Mertens hieß sie, was die für richtig fand und für gut fand, hat sie gesagt: Mach! Und dann wurde es gemacht. Und so war das eigentlich im RIAS auch später. Ich hab‘ auch als Abteilungsleiter junge Leute gehabt, die ich animieren konnte und animieren durfte, ihre Ideen umzusetzen.
[00:22:03]
Und die hatten zum Teil sehr verrückte Ideen. Aber die sind dann ganz gut gelaufen. Wir haben uns mal als Jugendfunk eine Sache geleistet, die ganz komisch war und zwar einen Aprilscherz erster Ordnung. Wir hatten eine Sendung, die hieß „Die Frühstückspause“. Die kam jeden Dienstag früh und der 1. April fiel auf den Dienstag. Und da hatten wir … hatte ein Kollege von mir, sich ausgedacht zu sagen, der Bürgermeister von Kreuzberg, Kressmann würde Hundefutter spenden und das Hundefutter würde am Rathaus Schöneberg ausgegeben werden. Der wußte gar nichts von seinem Glück. Aber es versammelten sich etwa 200 Leute mit ihren Hunden vor dem Rathaus Schöneberg und dann rief Willy Kressmann bei mir an und sagte: Ich bringe Hundefutter. Ihr habt mich ja ganz schön reingeritten, aber ich bringe es. So war das, was wir auch an Verrücktheiten produziert haben.
[00:23:06]
Jörg Wagner: Waren Sie gleich zu Beginn Redakteur? Gab’s diese Bezeichnung oder war man da Mädchen für alles?
[00:23:11]
Hanns-Peter Herz: Am 1. April 1947 war ich Redakteur beim RIAS und war angestellt beim Jugendfunk als Redakteur und habe dann diese Stellung als Redakteur beibehalten bis 1966. Und ich bin dann über die Leitung der Ost-Redaktion und der Innenpolitik schließlich in den Senat von Berlin gewechselt und wurde Chef des Presse- und Informationsamtes und später Chef der Senatskanzlei bei Klaus Schütz.
[00:23:44]
Jörg Wagner: Sie machten in dem Gespräch darauf aufmerksam, dass der RIAS mit dem Passierschein-Abkommen eine andere Strategie verfolgte. Ist das wirklich so die Zäsur gewesen, dass Sie sagen: Davor war der RIAS mehr jemand, der die Konfrontation suchte, die Destabilisierung der Zone, der DDR und ab da bemühte man sich um … ja Ausgeglichenheit, um Balance?
[00:24:11]
Hanns-Peter Herz: Diese Passierscheinsituation, die sich 1963 entwickelt hat, die war tatsächlich ein Bruch mit alten Traditionen. Wir haben also den Abkommen, die geschlossen worden sind, geglaubt. Wir hatten ja vorher immer die Meinung vertreten, dass alles, was die DDR sagt und was sie auch in Abkommen verbrieft hatten, verbriefen wollten, nur dem Zweck diente, eine Anerkennung der DDR herbeizuführen und damit langsam die westliche Position aufzulösen und auch in Berlin eine neue Situation zu schaffen, die Chruschtschow dann befördern wollte oder befördert hat. Das war also ein Abschnitt und der Abschnitt war auch geprägt durch konfrontative Sendungen, würde ich mal sagen. Aber nicht durch Aufhetzen der Bevölkerung, sondern dadurch, dass man Gegenüberstellungen brachte. Viel stärker in der Gegenüberstellung sprach von dem, was bei uns war, ohne das ein Paradies zu nennen und von dem, was drüben war, ohne das die Hölle zu nennen. Aber die Gegenüberstellung war etwas, was ein wesentliches Element der Rundfunkpolitik des RIAS gewesen ist, aber auch des Nordwestdeutschen Rundfunks in seinem Berliner Sender und dann später beim Sender Freies Berlin.
[00:25:47]
Denn die Passierschein-Abkommen haben ja signalisiert, dass man dem, was die DDR unterschrieben hatte und von den Russen genehmigt war, dass man dem Glauben schenkte. Und das mussten wir doch der Bevölkerung klarmachen, dass sie, um die inneren Zusammenhalte Deutschlands zu festigen oder wiederherzustellen, dass sie da aus diesem Grunde das anerkennen mussten, was mit den DDR-Behörden vereinbart worden war. Und das war natürlich ein Schwenk. Und das war auch etwas, was mich selber betraf. Ich hatte vorher nicht einmal durchfahren können durch die DDR und von da an konnte ich dann plötzlich wieder durchfahren, konnte meine Verwandten besuchen mit Passierschein. Und das habe ich ausgenutzt, regelrecht ausgenutzt. Ich hab‘ mal gesagt in dieser Zeit auch in einem Kommentar, vor der Passierschein-Aktion hatten wir brieflichen Kontakt mit drei unserer Verwandten. Nach der Passierschein-Aktion hatten wir menschlichen Kontakt mit 30 Personen aus unserer Verwandtschaft und das hat natürlich gezählt. Das hat einen ganz neuen, ganz neues Element in die Politik gebracht und auch für uns einen neuen Impetus in den Sendungen sich auseinanderzusetzen. Man wusste wovon man sprach, viel mehr als von dem, was man vorher nur erfahren hatte durch andere.
[00:27:27]
Jörg Wagner: Aber es hieß da noch ziemlich lange nicht „DDR“, sondern „Mitteldeutschland“ oder „Zone“ oder „Ostzone“. Und dann, als es mit der Anerkennungswelle also richtig losging Anfang der 70er Jahre, gab es dann aber auch immer noch so ein bisschen … Heinz Petruo, Sie erinnern sich, der die drei Buchstaben sehr gedehnt formulierte: „D-D-R“, um auch hier zu zeigen, es ist noch nicht alles im Lot.
[00:27:52]
Hanns-Peter Herz: Es gab keine Linie, nicht mehr „DDR“ zu sagen oder nicht „DDR“ zu sagen und „Sowjetzone“ beizubehalten, sondern das konnte jeder aus seiner inneren Einstellung machen. Matthias Walden war ja lange Chef-Kommentator beim RIAS und der hat die Passierscheine-Politik mit Gift und Galle verfolgt. Und trotzdem haben die Berliner zumindest 1,5 Millionen von den Passierscheinen Gebrauch gemacht. Sie haben uns geglaubt. Sie haben geglaubt, nachdem wir ihnen gesagt haben, wir haben erst es so anders gesehen und jetzt sehen wir es so, weil wir Zusagen von sowjetischer und deutsch-russischer Seite haben, in denen gesagt wird, wer daran teilnimmt. Wer den Passierschein bekommt, der kommt auch wieder nach Hause.
[00:28:43]
Jörg Wagner: Und die Amerikaner haben das so begleitet?
[00:28:47]
Hanns-Peter Herz: Die haben das begleitet und haben uns aber deutlich gemacht, dass sie eine Politik der Annäherung zwischen beiden Teilen Deutschlands als positiv bewerten würden.
[00:28:59]
Jörg Wagner: Jetzt nochmal Schritt zurück. 1963 sagten Sie: Passierscheinabkommen. Chruschtschow. Da gab’s dann so eine – das nannte sich Tauwetter-Periode in der DDR. Da entstand auch der erst einmal 99-Stunden-Sender DT 64, der dann später vom Berliner Rundfunk entstand. Wie haben Sie diesen neuen Sender, sage ich mal, diesen Jugendfunk beobachtet und eingeschätzt?
[00:29:22]
Hanns-Peter Herz: Wir haben ihn eingeschätzt insofern, als wir uns mit mancher Sendung, die dort gelaufen ist, ernsthafter auseinandergesetzt haben, als vielleicht das früher der Fall war. Wir haben es nicht einfach als Propaganda abgetan, sondern haben unsere Meinung dazu gesagt, sodass sich auch eine ungewollte Diskussion zwischen Ost und West daraus ergeben hat.
[00:29:48]
Jörg Wagner: Können Sie das näher beschreiben? Was heißt Diskussion?
[00:29:50]
Hanns-Peter Herz: Diskussion heißt, dass wir auf Sendungen geantwortet haben und dass die wieder auf diese Sendung geantwortet haben, sodass ein Gespräch zwischen den Rundfunksendern stattgefunden hat, was dann auch seinen Ausdruck fand im „Studio am Stacheldraht“ und ähnlichen Geschichten. Das waren ja auch Diskussionen über die Mauer hinweg, die nachher, die zunächst sehr einseitig waren, dann aber sich auch entwickelt haben. Und ich würde sagen, diese kleinen Ansätze sind ja alle zu einem großen Ganzen zusammengelaufen, irgendwann.
[00:30:34]
Jörg Wagner: Also es gab da so etwas wie ein Kräftemessen …
[00:30:37]
Ja.
[00:30:37]
Jörg Wagner: … zwischen den einzelnen Stationen. Fühlten sich da tatsächlich so unserem Art Wettbewerb?
[00:30:42]
Hanns-Peter Herz: Das würde ich schon sehen. Aber wir haben natürlich immer wieder die Grenzen gespürt, die den Leuten bei DT64 gezogen waren. Und die Grenzen wurden wieder immer enger, je freier sich dieser Sender gefühlt hatte.
[00:31:00]
Jörg Wagner: Es war ja lange Zeit so, dass der RIAS durch die aktuellere, frischere und dann auch westliche Musik einen Vorteil hatte. Haben Sie das bewusst, sagen wir mal forciert, dass Sie versucht haben, auch Quellen in den USA anzuzapfen, damit Sie immer sogar vielleicht noch besser sind als der AFN?
[00:31:17]
Hanns-Peter Herz: Das war richtig, denn die Musik war ein wesentliches Vehikel für Rundfunkempfang in dieser Zeit. Und je moderner sie war, je mehr sie den Wünschen junger Menschen entgegenkam, desto mehr wurde von dem Programm auch zur Kenntnis genommen.