GRENZSITUATIONEN: Journalismus über Suizid und Depression

Ulrich Hegerl | Foto: © Jörg Wagner

Was: Interview über Medien und Depression am Rande der 16. Tutzinger Radiotage
Wer:
* Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe
* Daniel Bouhs, Freier Medienjournalist
* Jörg Wagner, Freier Medienjournalist
Wann: 20.09.2021, 18:05 Uhr; veröffentlicht in einer 12:32-Minuten-Fassung im radioeins-Medienmagazin vom 25.09.2021, 18:10 Uhr und in einer Kurzfassung im rbb-Inforadio, am 26.09.2021 um 10:43 Uhr.
Wo: Tutzing, Akademie für politische Bildung

Bei Suizidgefahr: gibt es die Empfehlung, den Notruf 112 anzurufen.
Die Telefonseelsorge erreichen Sie unter 0800/111-0-111 oder -222.
Das Info-Telefon Depression: 0800/33 44 533
Mo, Di, Do: 13:00 – 17:00 Uhr
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Kurt Krömer und Torsten Sträter in „Chez Krömer“ über ihre Depressionserkrankung
Quelle: „Chez Krömer“, 22.03.2021, rbb



(wörtliches Transkript, Hörverständnisfehler vorbehalten)

Ulrich Hegerl [00:00:00] Mein Name ist Ulrich Hegerl. Ich bin Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und ich habe eine Professur an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Daniel Bouhs [00:00:14] Wir machen eine monothematische Sendung „Verantwortung des Journalismus“ vom Starnberger See, Tutzinger Medientage. Welche Verantwortung haben Journalistinnen und Journalisten, haben Medien, wenn es um das Thema Depression geht?

Ulrich Hegerl [00:00:29] Ja, bei diesem Thema ist es hilfreich, wenn man ein bisschen weiß, was eine Depression ist. Und da ist vor allem wichtig zu verstehen, was nicht ganz einfach ist, dass Depression doch eine recht eigenständige Erkrankung ist, eben auch eine Erkrankung, die Hirnfunktionen betrifft und mehr ist als eine Reaktion auf schwierige Lebensumstände. Denn, wenn man es nicht versteht und das ist bei den meisten Menschen zunächst der Fall und bei mir war das auch so zu Beginn, dann kommt man zu einer ganze Reihe von Fehlentscheidungen. Dann meint man z.B., wenn einer in der Arbeit in die Depression rutscht und sich völlig erschöpft fühlt, die Arbeit sei Schuld, obwohl es die in der Regel gar nicht ist. Man fühlt sich immer in jeder Depression erschöpft und dann kann man möglicherweise Fehlentscheidungen machen. Oder man hat den Eindruck, Depression ist vor allem jetzt eine Folge von Partnerschaftskonflikten. Und dann versteht man auch nicht, was Antidepressiva sollen. Erst wenn man versteht, dass es auch eine Erkrankung ist, die die Hirnfunktion beeinträchtigt, eine richtige Erkrankung, dann macht es z.B. auch erst Sinn, Antidepressiva zu nehmen, sonst würde man das ja gar nicht verstehen.

Jörg Wagner [00:01:35] Aber wie erkennt man jetzt eine echte Depression von einer Abgeschlagenheit, die man gern mal als Depression bezeichnet? Also wo ist da genau für eine Selbstdiagnostik der Unterschied?

Ulrich Hegerl [00:01:46] Das ist ein ganz entscheidender Punkt, dass man versucht abzugrenzen, eine nachvollziehbare Reaktion auf schwierige Lebensumstände von der schweren, oft lebensbedrohlichen Erkrankung Depression. Und für einen Facharzt ist es in der Regel gut möglich, denn der Mensch verändert sich meistens völlig. Er kennt sich oft selbst nicht wieder. Er neigt zu Schuldgefühlen. Er ist dauerangespannt. Das heißt, er sagt: Ich bin müde. Aber er ist nicht schläfrig. Es heißt, er schläft nicht gut ein, kann auch nicht durchschlafen, sondern fühlt sich permanent wie vor einer Prüfung. Oft gibt es Tagesschwankungen mit Morgentief. Nach dem Schlaf ist die Depression oft schwerer als vor dem Schlaf. Am Abend, wenn sich so ein Schlafdruck wieder aufbaut. Dann berichten manche, dass die Depression besser wird. Dann ist es eine Erkrankung, die durch Schlafentzug besser wird. Das wird in Kliniken z.B. als Behandlung oft angeboten und zur Überraschung der Betroffenen bessert sich dann eine oft seit vielen, vielen Wochen bestehende Depression nur dadurch, dass sie die zweite Nachthälfte wachbleiben. Allerdings ist das kein Wundermittel, weil nach dem Schlaf in der darauffolgenden Nacht ist die Depression meistens wieder zurückgekommen. Aber das sind alles Dinge, die wieder zeigen, dass Depressionen halt eine richtige Erkrankung ist.

Jörg Wagner [00:02:58] Und der Weg zum Arzt ist unumgänglich. Und wenn man sich also mit den Symptomen, die Sie gerade genannt haben, beschäftigt, sollte man unbedingt einen Facharzt aufsuchen und in jedem Fall. Aber wie berichten jetzt …

Ulrich Hegerl [00:03:09] Aber wenn ich Sie unterbrechen darf. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. An wen wendet man sich? Im Grunde gibt es drei Anlaufstellen. Der Facharzt für psychische Erkrankungen – Depression ist eine Erkrankung – ist der Psychiater. Da haben Sie völlig recht. Dann gibt’s aber noch die Gruppe der psychologischen Psychotherapeuten. Das sind Psychologen mit einer Spezialausbildung. Die können Psychotherapie anbieten und wie die Ärzte über die Kasse abrechnen. Und dann gibt es noch die Hausärzte. Und die meisten Menschen, die ambulant behandelt werden, meist mit Antidepressiva, werden vom Hausarzt behandelt. Also es sind im Grunde drei Anlaufstellen. Wenn die Depression schwer und hartnäckig ist oder gar Suizidgedanken kommen, würde ich aber immer den Weg zum Facharzt empfehlen, also zum Psychiater.

Jörg Wagner [00:03:51] Wie berichten aber nun die Medien über diese Krankheit? Sind Sie damit zufrieden?

Ulrich Hegerl [00:03:56] Verständlicherweise ist die Versuchung immer groß, eine Kausalität herzustellen zu Lebensumständen, obwohl die gar nicht diese große Rolle spielt, wie man immer meint. Wenn ein Sportler eine Depression kriegt, dann ist es der Leistungsdruck plötzlich. Der sei schuld. Das ist z.B. etwas, was meist nicht stimmt oder ein anderer, der in der Arbeit das Gefühl hat, er ist überfordert und es hat jeder Depressive hat immer das Gefühl, es überfordert. Da hat man das Gefühl, die Arbeit hat ihn krank gemacht oder was auch immer. Diese Kausalität herzustellen ist halt so verführerisch, dass das eigentlich den Journalisten schwerfällt, es nicht zu tun.

Daniel Bouhs [00:04:33] Wenn wir uns einzelne konkrete Fälle mal angucken, damit wir das auch besser verstehen. Also Sportler sozusagen, da fällt einem natürlich sofort Robert Enke als Beispiel ein. Sie hatten jetzt hier auf den Tutzinger Medientagen aber z. B. auch das Beispiel gebracht „Kulkwitzer See“. Was war bei dieser Berichterstattung das Problem?

Ulrich Hegerl [00:04:53] Hier geht es um die Frage von Nachahmungstaten. Denn man muss sich vorstellen, wenn jemand in die Depression gerutscht ist, in der sich alles verengt und aussichtslos wie eine Sackgasse erscheint. Da ist es manchmal schon ausreichend, dass jemand, den man kennt, so eine schreckliche Tat gemacht hat. Und dann folgt der Erkrankte diesem Weg nach. Das nennt man Nachahmungssuizide oder auch den Werther-Effekt.

Jörg Wagner [00:05:21] Von Goethe, die Leiden des jungen Werther.

Ulrich Hegerl [00:05:23] Genau da, wo sich diese Romanfigur das Leben genommen hat aus Liebeskummer. Und das hat eben damals Nachfolgetaten nach sich gezogen, sodass das Buch in Frankfurt sogar verboten worden ist. Und dieser Mechanismus, den sollte man natürlich versuchen, möglichst zu vermeiden, was, gerade wenn Prominente sich das Leben genommen haben, natürlich sehr schwierig ist. Aber einige Dinge kann man da schon berücksichtigen. Man kann verhindern, dass man die Methode im Detail beschreibt. Man sollte ja auch im Titel am besten jetzt nicht gleich von Suizid oder Selbsttötung sprechen oder gar von Selbstmord, was man ja eher nicht verwenden soll das Wort, da im Mord etwas Heimtückisches steckt oder Freitod, was eigentlich noch ungünstiger ist, denn in aller Regel ist der Suizid nicht eine freie Entscheidung, sondern fast immer eine Folge einer meist nicht optimal behandelnden psychiatrischen Erkrankungen. Also die Berichterstattung sollte was romantisierendes, heroisierendes das vermeiden. Die sollte versuchen auch hier wieder sofort Kausalitäten herzustellen. Denn in der Regel ist es nicht die Arbeit, die Schuld war oder der Leistungssport, sondern einfach eine Erkrankung. Und man sollte es in einem medizinischen Kontext stellen, wo es in der Regel hingehört. Die allermeisten Suizide 90 Prozent mindestens erfolgen vor dem Hintergrund einer psychiatrischen Erkrankungen. Nicht nur Depression. Das ist die wichtigste, aber auch schizophrene Erkrankung. Manisch depressive Erkrankung, Suchterkrankungen, auch Essstörungen, Anorexia nervosa. Das sind alles Erkrankungen, die mit einer deutlich erhöhten Suizidgefährdung einhergehen.

Daniel Bouhs [00:06:56] Aber damit wir den Fall nochmal, das Beispiel verstehen Was haben Medien da falsch gemacht? Wie waren die Schlagzeilen? Wie war die Berichterstattung und was hätte vermieden werden sollen?

Ulrich Hegerl [00:07:07] Na bei diesen … Berichterstattungen zunächst ist es ja nicht nötig, über Suizide immer zu berichten. Das ist ja nicht nötig, es sei denn, sie finden erst mal so im öffentlichen Raum statt, dass man es nicht vermeiden kann. An diese Regel halten sich ja auch die meisten Medien übrigens. Die meisten Suizide werden ja nicht berichtet. Gott sei Dank. Manchmal lässt es sich nicht vermeiden, dann sollte man berichten. Aber dann eben ohne Angabe des Ortes, wo das genau passiert ist und auch möglichst wenig schreiben über die vermuteten Hintergründe. Also im Grunde das tun, was man sonst eigentlich als Journalist immer tun sollte. Das sollte man genau hier versuchen nicht zu tun oder sehr sparsam hier zu sein und eben Hilfsangebote mit einbauen, den medizinischen Kontext herstellen, vielleicht Helfer interviewen und das in einen bissel anderen Kontext stellen.

Daniel Bouhs [00:08:01] Und in dem Fall am Kulkwitzer See war das ja so, dass eine Berichterstattung konkret beschrieben hat, was da passiert ist und es dann, wenn ich es richtig erinnere, am nächsten Tag gleich den nächsten, sehr ähnlichen Fall gab. Also Nachahmer.

Ulrich Hegerl [00:08:13] Genau. Das gab es ja auch in Wien. Da wurde sehr viel über Schienen-Suizide berichtet und da waren dann immer Schlagzeilen. Schon wieder ein Horror-Wochenende, wo sich zwei, drei Menschen das Leben genommen haben und dann konnte man sehen, wie die immer steil nach oben gingen. Die Schienen-Suizide in Wien und dann haben sich die Journalisten zusammengetan und überhaupt nicht mehr berichtet und dann sofort gingen die Zahlen wieder runter.

Jörg Wagner [00:08:35] Aber ist so ein Fall wie der prominente Fußballer Robert Enke, der sehr öffentlich auch dann – ich sag mal – in Gedanken zu Grabe getragen wurde, nicht auch ein Hinweis für viele unentdeckte Krankheitsträger, sich an Ihre Beratungsstelle zu wenden? Hilft das nicht, wenn man das öffentlich zelebriert?

Ulrich Hegerl [00:08:55] Völlig richtig. Das hat immer Vor- und Nachteile, alles. Wenn man sieht, dass auch so ein erfolgreicher Fußballer wie Robert Enke an Depression erkranken kann, hat es auch was Entstigmatisierendes bezüglich Depression. Und das ist immer gut. Depression ist eine Erkrankung, die muss entstigmatisiert werden. Dass es die Leute leichter haben, sich Hilfe zu holen. Und da … das ist sicherlich ein großer Beitrag, der meiner Meinung nach auch viel Positives bewirkt hat. Aber die Dinge sind halt zweischneidig.

Daniel Bouhs [00:09:23] Bei Robert Enke war das ja so, dass das erst im Nachhinein, also nach seinem Tod bekannt wurde und dann auch groß thematisiert wurde. Es gibt ja diverse, auch Prominente, die an die Öffentlichkeit gehen, weil sie Depressionen haben oder hatten. Nora Tschirner ist da ein aktuelles Beispiel. Walter Kohl, der Sohn von … einer der Söhne von Helmut Kohl. Inwiefern hilft Ihnen, Ihrer Arbeit und damit auch möglicherweise der Gesellschaft, wenn Prominente sich öffnen?

Ulrich Hegerl [00:09:51] Zunächst muss man wissen: Depression wie jede Erkrankung ist eine Privatsache. Es besteht kein Imperativ, keine Aufforderung, keine implizite, dass man da jetzt an die Öffentlichkeit damit geht. Es gibt aber einige Menschen, die haben das als so belastend erlebt, wie gering das Verständnis für diese Erkrankung in der Allgemeinheit ist, sodass sie sich eigentlich zur Aufgabe gemacht haben, damit offen umzugehen. Und wenn man sich das gut überlegt hat, alle Vor- und Nachteile, die das halt nach sich … mit sich bringt. Dann ist es natürlich sehr hilfreich, weil es eben vielen auch Mut macht. Und die bekommen dann meist auch sehr, sehr viel dankbare Zusprüche von Betroffenen, wenn jemand dann offen über seine Erkrankung spricht. Aber das ist in keiner Weise etwas, was man jetzt unbedingt tun muss. Das muss man sich sehr gut überlegen.

Jörg Wagner [00:10:38] Haben Sie zufälligerweise Reaktionen bekommen auf die Kurt-Krömer-Sendung, als er neulich auch seine Erkrankung öffentlich machte, in Zusammenhang mit einem Gast, den er mit ähnlichen Symptomen vorgestellt hat?

Ulrich Hegerl [00:10:49] Ja, so was gibt’s ja sehr häufig inzwischen. Und ich denke, Kurt Krömer ist ja auch sehr bekannt und hat sehr viel Follower. Das hat sicherlich auch Kreise gezogen und wir haben in den Social Media viele Aktivitäten. Da kommt ständig irgendetwas rein.

Jörg Wagner [00:11:03] Nun befinden wir uns seit anderthalb Jahren in einer Extremsituation. Die Gesellschaft ist gestresst durch Corona. Wie ist Ihre Perspektive auf die Corona-Krise?

Ulrich Hegerl [00:11:11] Zunächst glaube ich nicht, dass wir wegen der Maßnahmen gegen Corona jetzt eine Epidemie an Depressionen kriegen, weil das doch relativ eigenständige Erkrankungen sind und weniger eine Folge von äußeren Belastungen. Also diese Reaktionen, die es ja hier gibt, dass die Menschen irgendwie demoralisiert sind oder gestresst durch Homeschooling und Homeoffice oder jetzt berufliche Sorgen haben, das sind eine ganz normale menschliche Reaktionen und keine Erkrankungen. Aber was wir gefunden haben und das ist wirklich Grund zu ganz großer Sorge, das ist, dass bei den etwa fünf Millionen Menschen, die jedes Jahr in Deutschland an einer Depression leiden, dass bei denen etwa 50 Prozent angegeben haben, dass sich ihre Erkrankung verschlechtert hat durch die Maßnahmen.

Und da gibt’s zwei Hauptwege. Das eine ist, dass die Qualität der medizinischen Versorgung runtergegangen ist. Das haben auch sehr, sehr viele berichtet. Stationäre Behandlungen wurden abgesagt, Ambulanzen haben den Termin runtergefahren, Patienten waren so verängstigt, dass sie selber Termine abgesagt haben beim Psychiater, beim Psychotherapeuten, Selbsthilfegruppen sind ausgefallen. Also die medizinische Versorgung ist schlechter geworden.

Und das zweite ist, dass die Maßnahmen das Verhalten sehr ungünstig beeinflussen und zwar ganz spezifisch auch für Depressionen. Zum Beispiel ist es schlecht, man weniger Sport macht, was sehr viele berichtet haben. Denn Sport ist ein unterstützender Behandlungsweg in der Depression. Dann berichten sehr viele, dass sie früh ins Bett gegangen sind, länger liegen geblieben sind, sich tagsüber hingelegt haben. Das ist bei den allermeisten Menschen mit Depressionen sehr, sehr ungünstig. Schlafentzug ist ja eher etwas, was antidepressiv wirkt und durch lange Bettzeit und langer Schlaf wird die Depression erstaunlicherweise eher schlechter. Also dieses Erschöpfungsgefühl geht nicht weg durch Schlaf bei der Depression. Und dann ist der Tag unstrukturiert. In der Depression kann man sich nicht gut organisieren und die Menschen liegen dann halt grübelnd auf der Couch. Und das erklärt, warum so viele gesagt haben: Bei mir hat sich’s verschlechtert, ich habe einen Rückfall erlitten, ich habe Suizidgedanken entwickelt. Es gab sogar 16 Menschen, die bei der Befragung angegeben haben, dass sie in den letzten sechs Monaten einen Suizidversuch begangen haben. Das ist ein Riesenproblem, weil es ist eine schwere Erkrankung.

Und wenn man das jetzt hochrechnet, entspricht es ja der Tatsache, dass zwei Millionen Menschen gesagt haben: Bei mir ging es abwärts durch die Maßnahmen und das wirft dann doch die für mich alles entscheidende Frage auf, die die Journalisten den Politikern eigentlich täglich stellen müssten: Was, glauben Sie, ist die Relation zwischen dem Leid und Tod, das durch die Maßnahmen verhindert wird und das durch die Maßnahmen verursacht wird? Und da ist das, was wir bei der Befragung herausgefunden haben, ja nur eine Facette, nämlich die Facette der Mensch mit psychischen Erkrankungen. Aber das ist schon eine riesengroße Facette, die wir hier gesehen haben und die Grund zur Sorge ist. Ich habe die Sorge, dass die Politiker sich darum nicht systematisch kümmern, nicht systematisch Daten erheben, Daten zusammentragen und systematisch auswerten. Aber wenn man das nicht macht, dann kann man die Maßnahmen nicht optimieren und man kann nicht beim nächsten Mal überlegen: Wie können wir es denn besser machen? Und haben wir vielleicht übertrieben und vielleicht sogar mehr Leid und Tod verursacht als verhindert? Die Frage kann man dann nicht beantworten.

Daniel Bouhs [00:14:31] Aber, werden Sie sagen, da gibt es eine Nachlässigkeit auch bei Medien entsprechende Fragen dann zu stellen oder eben nicht zu stellen.

Ulrich Hegerl [00:14:38] Mich wundert es, warum Herr Lauterbach diese Frage nicht ständig vorgesetzt bekommt. Mich wundert es. Ich würde sehr gerne mal hören, was er darauf sagt. Wahrscheinlich wird er sagen: Wahrscheinlich überwiegen eindeutig die Vorteile, aber wenn man ihn fragt, auf welcher Datenbasis er das denn vermutet, dann denke ich wird er Sorgen haben, wird er Probleme haben, darauf gut zu antworten, weil es nach meinem Kenntnisstand nicht proaktiv und systematisch erfasst wird. [26.3s]

Daniel Bouhs [00:15:05] Sie haben ja Empfehlungen letztlich aufgestellt, wie Medien berichten sollten, wenn Sie über Depressionen berichten. Was sind aus Ihrer Sicht so die drei wichtigsten dieser Hinweise?

Ulrich Hegerl [00:15:16] Ich denke, in einen medizinischen Kontext stellen. Vermeiden, dass man Orte und Methoden prominent darstellt, keine Bilder des Tatortes, um dann nicht an genau diesem Ort Nachahmungstaten zu induzieren. Alles heroisierende vermeiden …

Daniel Bouhs [00:15:34] … dass man jetzt bei den Engeln sei, wo nichts mehr … wo keine Gefahr mehr drohe.

Ulrich Hegerl [00:15:38] … romantisierend oder Verständnis für diese Tat suggerieren. Und wie immer vermeidend, dass man da vorschnelle Kausalitäten herstellt, warum das Ganze passiert ist. Also der Stress im Leistungssport oder was auch immer … was einem ja immer gerade einfällt. Da gibt’s immer bei jedem von uns irgendeinen Grund. Und das ist meistens aber nicht der wirkliche Grund.

Jörg Wagner [00:15:58] Wer sich weiterhin für Ihre Arbeit interessiert, hat Gelegenheit, einen Podcast zu hören „Raus aus der Depression“, den Sie mit dem Norddeutschen Rundfunk produzieren in Kooperation mit Harald Schmidt, dem uns allen noch vertrauten Entertainer, Satiriker. Vielleicht ein ganz kurzer Hinweis. Wer sollte diesen Podcast hören? Nur Kranke, oder …?

Ulrich Hegerl [00:16:19] Ja, das ist für alle, die an dem Thema interessiert sind. Das ist ja ein Thema, mit dem fast jeder irgendwann mit dem Leben in Kontakt kommt.

Jörg Wagner [00:16:28] Durch Angehörige z. B.

Ulrich Hegerl [00:16:30] Ja durch Freunde, durch …

Jörg Wagner [00:16:31] Und durch Medien, natürlich durch Schlagzeilen.

Ulrich Hegerl [00:16:33] … durch Medien, die man liest. Und da bissel ein Verständnis zu entwickeln, was das eigentlich ist, ist natürlich gut, aber natürlich auch Angehörige, die ja wie bei jeder schweren Erkrankung natürlich auch eine riesen Belastung haben. Das hat man auch, wenn man jetzt einen pflegebedürftigen, aus anderen Gründen pflegebedürftigen Menschen zu Hause hat. Aber die Depression macht vielleicht noch ein bisschen schwerer, weil man vielleicht glaubt, man hat jetzt die Aufgabe, den Menschen da rauszuholen. Oder man ist selber schuld, weil es Stress in der Beziehung gegeben hat. Das macht es dann oft noch ein bisschen komplizierter. Bei der Depression und da sich zu informieren, um das richtig einschätzen zu können auch das veränderte Verhalten des Erkrankten, dass das nicht ein sich Gehenlassen in Lieblosigkeit ist. Das ist etwas, was wichtig ist. Sich informieren z. B. auf den Seiten der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, wo es evidenzbasierte Informationen gibt.

Jörg Wagner [00:17:22] Nun haben wir auch Verantwortung hier in diesem Interview. Wäre das auch die Anlaufstelle? Wer jetzt durch genau diese Thematik im Radio – ich sag mal, so ist das möglicherweise ja geradezu noch anziehender durch so ein Dialog jetzt, wenn jemand betroffen ist – Hilfe zu suchen? Wir können die nicht geben. Wir sind keine ausgebildeten Psychologen. An wen soll man sich jetzt, wer akute Probleme hat, sofort hin wenden?

Ulrich Hegerl [00:17:46] Das sind die drei Anlaufstellen, die ich vorhin genannt habe, also der Facharzt, der Psychiater, die psychologischen Psychotherapeuten.

Jörg Wagner [00:17:53] Aber gibt’s sowas wie eine bundeseinheitliche Telefonnummer zum Beispiel?

Ulrich Hegerl [00:17:56] Nein. Es gibt jetzt … natürlich gibt’s auch noch Krisenhotlines, aber ich würde vor allem denken, man muss zum Arzt gehen. Das ist … das ist der allerbeste Weg.

Daniel Bouhs [00:18:04] Ulrich Hergerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, hier im Gespräch am Rande der Tutzinger Radiotage über die Verantwortung der Medien bei der Berichterstattung über Depressionen und Suizide. Vielen Dank.

Ulrich Hegerl [00:18:17] Danke schön.








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