(wörtliches Transkript der Sendefassung, Hörverständnisfehler vorbehalten)
Filmausschnitt [00:00:02] Europa am Wendepunkt. Unser Kontinent steht vor den größten Herausforderungen seit dem Zweiten Weltkrieg. Vieles steht auf dem Spiel für ein vereintes und demokratisches Europa.
Andreas Pichler [00:00:15] Also mein Name ist Andreas Pichler. Ich bin ursprünglich aus Italien, habe aber lange auch in Berlin gelebt und gearbeitet und ich war der Showrunner, wie man das heutzutage nennt, der Serie. Also ich habe den kreativen Prozess geleitet in erster Linie und habe dann auch bei einer Episode der Regie geführt.
Filmausschnitt [00:00:34] Ich finde es schwierig, einem Deutschen die Schönheit der Digitalisierung zu erklären, weil Sie ihre Vorteile nie wirklich erlebt haben. – Ich finde es äußerst wichtig. Die Digitalisierung ist jetzt schon da und sie wird weitergehen. Aber jetzt können wir als Demokratien sagen, dass wir die Richtung bestimmen werden. – Die Läden, sind geschlossen und man weiß nicht, wer zuständig ist. Wir sind keine Sklaven, wir sind Arbeiter. – Europa muss jetzt aus dieser Sandwich-Situation zwischen den USA und China herauskommen, um nicht womöglich zu einer digitalen Kolonie zu werden. – Wie wir die drängenden Fragen heute angehen, entscheidet über die Zukunft der kommenden Generationen.
Andreas Pichler [00:01:24] Also uns ging es von Anfang an darum, sozusagen diesen Kontinent mal als Ganzes zu erzählen. Und daher kommt dann auch im Erzählertext dieses: „Wir Europäer“ und „Unser Europa“ in gewisser Weise. Die Themen haben sich entwickelt. Wir haben uns mit relativ vielen Experten getroffen: Geographen, alles Mögliche. Energie-Experten, -Expertinnen und die großen treibenden Themen Europas sind natürlich der Klimawandel, Ungleichheit und natürlich Digitalisierung und auch die Migration. Und aus dem heraus haben wir dann sozusagen die einzelnen Episoden entwickelt.
Filmausschnitt [00:02:05] Diese Serie zeigt Menschen, die entschlossen an Lösungen arbeiten, für einen Kontinent im ständigen Wandel, viel stärker miteinander verbunden, als uns allen bewusst ist.
Jörg Wagner [00:02:21] Ihr dramaturgisches Prinzip ist, wenn ich das mal so von außen beurteilen darf, nicht nur eine Bestandsaufnahme zu machen, die Probleme aufzuzeigen, sondern auch irgendwie dann produktiv zu begleiten. Also ein Beispiel aus der dritten Folge, wo gesagt wird, also mit dieser Transportleistung, die wachsen wird, ob das das Flugwesen ist, ob das die Straße ist, werden wir es nicht hinkriegen, die Klimaprozesse unter Kontrolle zu haben und haben dann die Schweiz als Vorbild dargestellt, also als Möglichkeit, ohne jetzt weder eine Fluglinie noch irgendeinen LKW-Fahrer damit zu denunzieren, als der Böse. Also Sie haben kein schwarz- weiß-Schema, aber Sie haben in der Fairness dennoch gesagt, das wird wahrscheinlich die Lösung sein. Sind wir da weiter, als wir denken?
Andreas Pichler [00:03:09] Ja, in der Tat glaube ich schon, dass wir oft viel weiter sind, als wir denken. Und wir kommen eigentlich alle im Team sozusagen aus dem kritischen Journalismus oder kritischen Dokumentarfilm. Aber es war uns einfach relativ bald auch wirklich ein Anliegen, positive Beispiele zu finden und zu zeigen, also auch Lösungen anzubieten. Vermehrt wahrscheinlich noch mal durch die Pandemie. Es war so eine allgemeine dunkle Zeit, negative und ich glaube, in der Zeit ist das noch mehr gereift, also sozusagen dieser Wunsch und in der Tat, wenn man wirklich so einen ganzen Kontinent als Möglichkeit, als Spielfeld hat, dann kann man wirklich Lösungen finden am ganzen Kontinent und so ja Best-Practice-Beispiele. Die Schweiz im Transportwesen ist … das ist eine verblüffende Geschichte. Also die haben 94 durch einen Volksentscheid beschlossen, sie wollen weniger Transitverkehr, LKWs, also die Hauptachse der Mittelmeer Deutschland. Und so weiter und so fort …
Jörg Wagner [00:04:05] Damit sich nicht alles durch die Alpen quälen muss.
Andreas Pichler [00:04:07] Genau. Ja. Und hat natürlich auch eine Vorgeschichte, dass der Zug immer schon ein sehr beliebt war in der Schweiz. Und Tatsache ist aber heute, dass in der Schweiz über 50 % des ganzen Güterverkehrs auch über Züge gelöst wird.
Filmausschnitt [00:04:19] Die Schweiz ist das einzige Land in Europa, in dem der Zug das wichtigste Verkehrsmittel für Personen und Güter ist. Die geographische Beschaffenheit des Landes legt das nicht unbedingt nahe. – Die Bahn ist beliebt geworden. Das Volk hat immer wieder entschieden, Milliardenbeträge zu sprechen für weiteren Ausbau und somit den Bahnverkehr sowohl für Personenverkehr wie auch für den Güterverkehr in der Wirtschaft vollständig integriert. – Die große Schweizer Einzelhandelskette Migros arbeitet daran, ihren CO2-Fußabdruck aufs absolut Notwendige zu reduzieren. Deshalb werden nahezu alle Lieferungen über Züge abgewickelt. – Migros ist die größte private Arbeitgeberin in der Schweiz. Fast 100.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind bei uns beschäftigt. Wir gehören den Menschen. Circa 2 Millionen Menschen in der Schweiz sind unsere Eigentümer. Wir sind eine Genossenschaft. Für uns ist es wichtig, die Logistik effizient zu gestalten und nachhaltig. Deshalb arbeiten wir nach dem Prinzip Schienenverkehr vor Straßenverkehr. Die Luftfracht-Transporte sind absolut marginal bei uns. Höchstens 1 % der Ware wird geflogen. Wenn wir ausnahmsweise trotzdem Ware fliegen müssen, dann belasten wir diese Transporte mit einer Abgabe. Damit speisen wir einen Fonds und aus diesem können wir dann wieder eigene Nachhaltigkeitsprojekte fördern.
Andreas Pichler [00:05:53] Ich glaube, man kann die Dinge nicht immer eins zu eins übertragen. Natürlich ist die Schweiz ein spezielles Beispiel. Aber die Geschichten, die wir erzählen, können durchaus als Leuchtprojekte gelten für andere Gegenden in Europa. Und mittlerweile funktioniert es ja auch. So wird er auch kommuniziert, in Digitalisierung zum Beispiel. In der Episode über die Digitalisierung gibt es eine Geschichte über Barcelona, wo es eine Art von direkter Demokratie oder Bürgerbeteiligung für große urbane Stadtprojekte initiiert wurde, das über digitale Tools passiert. Ist schon bald vier, fünf Jahre alt und das wurde aber auch in vielen anderen Städten – jetzt nicht in der Größe und der Konsequenz kopiert – aber da gibt es schon auch eine Generation mittlerweile von Politikern und von Entscheidungsträgern, die sich umschauen im ganzen Kontinent. Und ich glaube, das ist dieser, dieser Geist, dieser europäische, der manchmal eigentlich schon viel weiter ist, als wir das uns im Kleinen oft sehen.
Jörg Wagner [00:06:46] Haben Sie da schon Erfahrungen machen können? Also mit konstruktivem Journalismus? Weil man kann sich ja eigentlich eher heutzutage immer noch mehr Lorbeeren verdienen, wenn man irgendwie investigativ eine Schlamperei aufdeckt. Und dann hat man irgendwas aufgedeckt, aber dann ist im besten Fall ein Problembewusstsein entstanden, aber noch nicht der Lösungsansatz. Und wenn man jetzt sowas einbaut, lernen dann auch Länder tatsächlich voneinander? Haben Sie das Gefühl, dass man da was als Journalist, als Filmemacher bewirken kann?
Andreas Pichler [00:07:18] Das muss ich ehrlich gesagt erst noch sehen. Wie gesagt, ich komme auch eher vom kritischen, also fast ein bisschen von negativer Dialektik geprägt. Also je größer wir die Schweinerei … also je tiefer wir graben und Schweinereien aufdecken, desto mehr schreien die sozusagen nach Lösungen. Ob das jetzt dann wirklich Schule macht, wenn man auch positive Beispiele zeigt, das muss ich erst noch sehen. Bin ich auch ziemlich gespannt, muss ich ehrlich gesagt, sagen.
Jörg Wagner [00:07:42] Inwieweit ist es da gut, dass ARTE sozusagen der Host für diese Doku-Reihe ist und nicht irgendein kommerziell orientierter Fernsehsender, der über negativ … über Skandalisierung, über Vibrationswellen Projekte vielleicht in Auftrag gibt. Ohne das jetzt abzuwerten, ist alles nötig. Aber gibt es da so was wie auch so eine Produktionssicherheit bei solchen Projekt? Haben Sie davon profitiert, dass das ein öffentlich finanziertes Fernsehsystem ist?
Andreas Pichler [00:08:13] Ja, ich denke so eine Serie oder eine Reihe, die wäre wahrscheinlich im Privatfernsehen nie möglich gewesen.
Jörg Wagner [00:08:19] Aber vielleicht bei Netflix?
Andreas Pichler [00:08:20] Netflix durchaus. Wobei Netflix ja sehr Storytelling ist. Also es wenig thematisch gearbeitet wird, dass sehr stark über Protagonisten erzählt. Ich glaube, es wäre auch eher schwer gewesen sozusagen. Ich denke, das war die perfekte Verbindung, sozusagen mit ARTE mit allem … mit der Grenze, dass natürlich ARTE kein gigantischer Sender ist, der durchaus seine Leuchtkraft hat, aber am Ende sind es ein paar Prozent, die es wirklich anschauen. Ich denke ARTE in seinem Grundgeist widerspiegelt sozusagen den Geist dieser Serie. Wir sind alle glühende Europäer, wenn man so will, aber schon nur aus der Praxis, weil wir mal irgendwo dort gelebt haben und jeder in einem anderen Land auch gelebt hat. Und insofern liegt mir und ich glaube dem ganzen Team einfach dieser europäische Geist sehr, sehr, sehr, sehr nahe. Und ich glaube, es ist auch höchste Zeit, dass wir Europa weiterdenken. Also wirklich, ich bin der Meinung, wir sollten eine Republik Europa schaffen und dann kann es noch Regionen dazugeben. Und so weiter und so fort. Sonst bleibt da immer zu viel in diese nationalen Interessen einfach hängen. Das so als Basis. Und das ist natürlich … so ein Sender wie ARTE ist da der perfekte Platz, der perfekte Kanal.